von Ursula Klane, 04/2020; Photos Bernd Klane und Ursula Klane
1. Einleitung
In unserem Alltag mit seinen unterschiedlichen Anforderungen ist es hilfreich, regelmäßig Besinnungspausen einzulegen, und sich zu manchen Eindrücken oder Ereignissen des Tages ein tiefer gehendes Wahrnehmen zu bilden. Zu schnell gleiten manche Eindrücke des Tages an uns vorüber.
Ein tiefer gehendes Wahrnehmen lässt auch unser Empfinden zu den Ereignissen zunehmen. Damit erleben wir uns insgesamt ruhiger und zentrierter, und auch verbundener mit unserer Umgebung. Der Blick ist wieder freier von Gewohnheiten und Routine.
In einer erweiterten Betrachtung hängt unser psychisches und physisches Wohlbefinden von regelmäßigen Besinnungspausen ab. Ohne Übertreibung darf man sogar sagen, unsere psychische und physische Gesundheit hängt von regelmäßigen Besinnungspausen ab.
Den Hintergrund bzw. die Einbettung zu diesem bedeutungsvollen Zusammenhang können Sie in einer Broschüre1) nachlesen.
Eine Empfindung unterscheidet sich grundsätzlich von einem mehr enthusiastischen Gefühl oder einer Anschauung, die allein vom logischen Verstand, vom Intellekt ausgeht. Im Alltag bewegt sich der Erwachsene jedoch häufig zwischen den intellektuellen Erfordernissen und emotionalen, enthusiastischen Regungen hin und her.
Durch die Empfindung kommt dem Menschen mehr die Eigenart des Gegenübers, z.B. eines Naturgegenstandes, ins Bewusstsein. Man sagt auch, das „Wesen“ der Sache drückt sich dadurch vermehrt aus. Somit drückt eine Empfindung eine Eigenschaft oder Eigenheit aus, die uns sonst eher verborgen bliebe.
Es liegt in der Natur des Menschen, die Umgebung nicht einfach nur hinzunehmen, sondern durch Interesse und Hinschauen eine vertiefende Verbindung aufzubauen. Wie kann das aussehen? Eine Möglichkeit der Annäherung ist unsere neuzeitliche Wissenschaft, die die Materie im äußeren Erscheinungsbild genauestens untersucht. Wir werden aber im Folgenden sehen, dass diese Untersuchung – bleibt es nur dabei – eher sezierend und fragmentierend wirkt und daher für den inneren Menschen unbefriedigend bleibt.
Mitunter erfreuen wir uns relativ oberflächlich der Natur, in dem wir emotional feststellen: Ach, ist das herrlich grün! Das Schwärmerische trägt jedoch kein tragfähiges Erleben, keine empfindungsvolle Regung in sich. Das Schwärmerische trägt Projektionen in sich und wirkt im Gegenteil letztendlich sogar isolierend.
Eine zusätzliche Art, eine weitere Art der Annäherung ist erforderlich. Diese ergänzt bzw. erweitert einen rein naturwissenschaftlichen Ansatz: die Naturbetrachtung zur Entwicklung von Empfindungskraft. Die Natur spricht sich nicht allein durch rein wägbare, zählbare Sachverhalte aus. Sie spricht sich auch nicht durch schwärmerisches Verhalten von uns aus. Vielmehr erleben wir Naturerscheinungen über zusammenhängende Eindrücke und Empfindungen.
Die begrünte Natur zu erleben ist für unser Wohlbefinden ausschlaggebend wichtig. Viele Redewendungen zeugen von ihrer Erholsamkeit. Wir blicken ins Grüne, man geht im Grünen spazieren, man wählt ein frisches Grün als Raumfarb-Anstrich. Arztpraxen und Krankenhäuser bekleiden Wartezimmer mit grün gestrichenen Wänden, mit Wald- oder Wiesenfotografien.
Im Folgenden wollen wir eine kurze naturwissenschaftliche Betrachtung zur Farbe grün anregen, und im Anschluss eine Bewusstseinsübung nahebringen, die jeder Interessierte über mehrere Tage hintereinander ausführen kann.
Üblicherweise nehmen wir ein Phänomen kognitiv oder intellektuell auf. Begegnen wir etwas Neuem, wollen wir eine uns gestellte Aufgabe lösen, es beginnt unser Intellekt zu arbeiten. Schnellstmöglich versuchen wir das Gesagte zu erfassen und die Aufgabe zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen. Dabei steht das verstandesgemäße Erfassen, das intellektuelle Verstehen, an erster Stelle. Unser Berufsalltag ist häufig von dieser Qualität.
Das Problem ist aber, dass man durch den „bloßen Intellekt“ ein Phänomen in Einzelteile zerlegt, und das, was der Erscheinung inne liegt, nicht wirklich wahrnehmen kann.
Johann Wolfgang von Goethe hat diesen Verlust folgendermaßen beschrieben:
Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben.
Dann hat er die Teile in seiner Hand.
Fehlt leider! nur das geistige Band.
Carl Friedrich von Weizsäcker, Physiker und Philosoph, hat diesen Verlust so ausgedrückt:
Die Auflösung der Wirklichkeit in ein Geflecht von Kausalfäden ist ein Irrtum.
Eine Kultur, welche die Wirklichkeit so missversteht, kann nicht anders,
als die Wirklichkeit zu zerstören, die sie zu beherrschen und zu verbessern meint.7)
Mit diesen einleitenden Betrachtungen gehen wir über zu Aspekten der naturwissenschaftlichen Betrachtung der Farbe grün.
2. Naturwissenschaftliche Betrachtungen zum Pflanzengrün
Das Chlorophyll übernimmt zu einem großen Anteil die Photosynthese-Leistung der Pflanze (Carotine assistieren dem Chlorophyll bei der Photosynthese). Chlorophyll nimmt Anteile des Sonnenlichts auf und reflektiert andere, dadurch sehen wir es „grün“.
Im folgenden wird die Photosynthese kurz erläutert.
Photosynthese der Pflanzen:
Mithilfe der Photosynthese ernähren sich Pflanzen während des Tages. Aus Kohlendioxid und Wasser, welches die Pflanze aus der Umgebung aufnimmt, erbaut sie unter Anwesenheit von Sonneneinstrahlung Glukose. Bei der Reaktion wird Sauerstoff frei den die Pflanze in ihre Umgebung abgibt.
Im folgenden ist das Beschriebene als chemische Gleichung dargestellt, als sog. Summengleichung der Photosynthese:
6 CO2 + 6 H2O ——hν(Sonnenlicht)——> C6H12O6 + 6 O2
Kohlendioxid und Wasser ergibt mit Sonneneinstrahlung Glukose und Sauerstoff
In den Zellen der Blätter sind sog. Chloroplasten enthalten, in welchen die Photosynthese stattfindet.
Zum Chlorophyll:
Chemisch gesehen besteht Chlorophyll aus einer Ringstruktur, aus einem Porphyrin-Gerüst.
oben: Porphyrin-Gerüst; deutlich ist der Wechsel aus Einfach- und Doppelbindungen erkennbar. Dieser Wechsel von Einfach- und Doppelbindungen ist hier sozusagen formal dargestellt. In der Realität liegen die freien Elektronen über das Molekül verteilt vor, man nennt sie deshalb delokalisierte Elektronen. Die Delokalisierung der Elektronen ist verantwortlich für den Lichteinfang bzw. die Farbwirkung. 2) Porphyrine sind Farbstoffe. Der beschriebene Bau des Moleküls ist verantwortlich für die Farbwirkung.
Das Chlorophyll in Pflanzen absorbiert das Licht insbesondere im roten Bereich (ca. 680 nm, 700 nm). Unsere Augen sehen das zurückgeworfene Sonnenlicht, dem dieser rote Anteil somit fehlt, und wir empfinden dies als „grün“.
In der Mitte dieses Gerüsts sitzt beim Chlorophyll ein Magnesium-Atom (Mg), siehe Grafik untenstehend. Ein erstaunliches Phänomen ist, dass das Porphyrin-Gerüst im Körper des Menschen ebenfalls eine wichtige Aufgabe hat, nämlich den Sauerstoff im Blut zu transportieren. Für diese Aufgabe ist das Zentralatom Eisen (Fe) relevant anstatt Magnesium (Mg). In der Bauweise mit Fe als Zentralatom entsteht der Farbstoff, der Häm genannt wird und den farbigen Bestandteil des Hämoglobins ausmacht, den wir „rot“ sehen. Häm absorbiert Licht im blaugrünen Bereich und erscheint dem menschlichen Auge deshalb rot. 3) Im folgenden sind die beiden Farbstoffe Chlorophyll und Häm abgebildet.
Links ist Chlorophyll abgebildet, welches in Pflanzen vorkommt, rechts Häm, ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Bluts.
Diese naturwissenschaftlichen Betrachtungen sind sehr interessant und wichtig. Jedoch bringen sie uns einem tieferen Erleben der Farbe grün noch nicht erheblich näher. Wir bewahren das bisher Gelesene im Hintergrund und machen weitere Schritte in der Betrachtung.
3.Weitere Beobachtungen
Wenn wir durch die Natur gehen, erleben wir Farb- und Lichteindrücke ganz unterschiedlicher Herkunft. Von der Sonnenstrahlung, die auf eine Pflanze auftrifft, wird je ein Teil an der Oberfläche des Blatts reflektiert (sog. Reflexion), ein Teil wird vom Blatt aufgenommen (sog. Absorption) und wieder selektiv abgestrahlt und ein Teil wird durch das Blatt hindurchgelassen (sog. Transmission). Wir empfangen vielfach verändertes Sonnenlicht. Es lohnt sich, in der Natur diese unterschiedlichen Lichtphänomene einzeln wahrzunehmen.
Transmission von Licht
Weichlaubige und dünne Blätter lassen mehr Sonnenlicht durch sich hindurch als derbe Blätter. Es sind meist die jungen Blätter des Frühjahres (links: Eichenblätter).
Im Hochsommer kann es hingegen unter einem Blätterdach vergleichsweise dunkel sein, wenn diese Lichtdurchlässigkeit nicht mehr besteht.
Reflexion von Licht
Im Sommer werden Blätter von Bäumen in der Regel kräftiger oder derber. Trifft in einem bestimmten Winkel Licht auf glatte Oberflächen von Blättern, so wird das Sonnenlicht wie von einem Spiegel reflektiert. Es dringt also gar nicht erst in die Blattsubstanz ein. Deutlich auf dem Photo ist zu sehen, wie die Blätter der Birke einen Teil des Sonnenlichts weiß oder silbern zurückwerfen oder reflektieren. Die Krone des Baumes glitzert im windstillen Mittagslicht.
Absorption von Licht
In diesem Licht leuchtet das Gras in einem „satten“ grün. Ein Teil des Sonnenlichtes wird von den Halmen in die Tiefe der Pflanzensubstanz aufgenommen. Metaphorisch ausgedrückt: Wir sehen das grüne Licht des Grases und nicht mehr das der Sonne. Geringfügig ist die Reflexion des Sonnenlichtes zu erkennen.
Meistens ist der Gesamteindruck ein lebendiges Zusammenspiel dieser drei Einzelphänomene, wie man es beispielsweise hier im Wald sieht.
4. Naturbetrachtung zur Farbe grün
Um das geistige Band, die Wirklichkeit, wie es vorher durch die Zitate von v.Goethe und v.Weizsäcker angeklungen ist, näher zu bringen, braucht es zusätzlich zu den bisherigen Betrachtungen geisteswissenschaftliche Erkenntnisse.
Nachfolgend ist ein Geisteswissenschaftler der Gegenwart zitiert, Heinz Grill4). Heinz Grill hat vielfach Naturerscheinungen, Menschen und andere Weltenphänomene in ihrem inneren „Wesen“ erforscht und beschrieben.
Mit dem Begriff „Wesen“ sei das einer sichtbaren Erscheinung innliegende Phänomen benannt, welches für die fünf bekannten Sinnesorgane nicht wahrnehmbar ist, jedoch die Naturerscheinung ursächlich ausmacht bzw. diese ursächlich belebt. Es braucht für die Wahrnehmung des innliegenden Phänomens Erkenntnismethoden, die weitere „Sinnesorgane“ im Menschen hervorbringen bzw. weiterentwickeln.
Zu der Ergründung einer Naturerscheinung schreibt H.Grill:
Je tiefer die Erscheinungen der Naturschöpfung in das Bewusstsein rücken, um so mehr wird sich der Übende bewusst, dass alles Sichtbare eine gewisse Widerspiegelung oder manchmal Umkehrung von dem ist, was einstmals im Geistigen war …. Wir sehen selbst die Welt spiegelverkehrt …. Wenn wir die Ursache im Geiste, die einem Phänomen zugrunde liegt, suchen wollen, so dürfen wir nicht davon ausgehen, dass wir sie direkt über die Beobachtung der Stoffeswelt finden. Eine längere Reihe von weiteren Beobachtungen und Gedanken sind notwendig, damit sich das Bewusstsein in ein empfangendes und ruhiges Verhältnis zu der Antwort geben kann. …. 5)
Um der Empfindung der Farbe grün näher zu kommen, soll nachfolgender Gedankengang von H.Grill betrachtet werden:
... Der Übende erlebt, dass ihn die Farbe auf einer Art horizontalen Ebene mit der Natur und der Umgebung verbindet. Das grün wirkt unmittelbar auf das Seelenleben des Menschen und bindet ihn stärker in die Landschaft ein, ohne ihm einen Anlass zu Überheblichkeit zu geben. Durch das grün fühlt sich der Mensch auf gleichwertiger Ebene mit der Natur und der Welt verbunden. Er lässt seinen Kopf weder nach oben hin in stolze, schwärmerische Ausflüchte steigen noch lässt es ihn zurücksinken in eine dumpfe Müdigkeit. Was ist das Ideal der Farbe grün? Das grün gibt dem Menschen für seine seelischen Empfindungen eine natürliche eingebundene Ordnung und integriert ihn in das Naturgeschehen.6)
Um sich diesem Gedankengang anzunähern genügt ein einmaliges Lesen oder Betrachten des Bildes im Buch oder in der Natur nicht. Es genügt auch nicht, dass man den beschriebenen Gedanken intellektuell zur Kenntnis nimmt.
Es braucht stille Phasen am Tag, in denen der Übende wiederholt die eigene Erinnerungs-, Vorstellungskraft und Gedankenkraft schult. Und es braucht Wiederholung.
Hier ist eine Bewusstseinsübung vorgeschlagen, bei der der Mensch aus einer Umgebung ohne jegliches grün kommend nach und nach hineingeht in eine Landschaft mit zunehmend grüner Landschaft. Versetzen Sie sich in die folgende Situation: Sie haben einige Tage in höheren Lagen am Berg verbracht. Ihre Umgebung war felsig oder Felsen voll Schnee oder Eis. Rundum konnte der Blick in die Weite schweifen. Die Farbeindrücke waren steinfarben, weiß und blau.
Nach mehreren Tagen Aufenthalt in der Höhe steigen Sie ab Richtung Tal. Der Abstieg führt zunächst über felsiges Gelände und Geröllhalden
und danach weiter ins Grüne: Es beginnt die Almregion und der Blick schweift auch über die bewaldeten gegenüberliegenden Hänge.
Schließlich nimmt der Wald den Wanderer auf.
Ablauf der Übung
Nehmen Sie sich für die Übung 10 bis 15 Minuten Zeit.
Setzen Sie sich dafür auf einen Stuhl oder auf den Boden und achten Sie auf den aufgerichteten Rücken. Der aufgerichtete Rücken ermöglicht vergleichsweise mehr Wachheit.
Erinnern Sie zunächst die verschiedenen naturwissenschaftlichen Beobachtungen. Stellen Sie sich anschließend die beschriebene Situation wiederholt vor. Erleben Sie bewusst das Herabkommen aus der felsigen, verschneiten oder vereisten Hochregion des Gebirges in immer mehr grün. Wem es näher liegt, kann sich vorstellen nach einigen Tagen auf dem Wasser zurück an Land ins Grüne zu kommen. Jedenfalls kommt es auf eine Region an, welche keinen grünen Bewuchs trägt und welche Sie für ein paar Tage ununterbrochen als unmittelbare Umgebung bereist hatten. Nehmen Sie weiterhin auch den Gedankengang von Heinz Grill in der Übungsphase immer wieder hinzu.
Mit etwas Zeit und Wiederholung werden Sie ein Empfinden bekommen, dass Ihnen ein Gefühl von Dankbarkeit vermittelt, „zurück“ im Grünen zu sein. Sie werden etwas Aufnehmendes erleben können, etwas das Sie natürlich ins Leben einbettet, was mit der Farbe grün in Verbindung steht.
Quellenangaben bzw. Literaturempfehlungen:
1) Bernd Klane: Die Ordnung der Seelenkräfte im Yoga, Eigenverlag
2) Dickerson/Geis: Chemie – eine lebendige und anschauliche Einführung, VCH 1986, S. 479
3) Linder: Biologie, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung Stgt. 18.Auflage, S. 20
4) Über seine geisteswissenschaftlichen Forschungen hinaus ist Heinz Grill Alpinist und Erstbegeher von weit mehr als 100 Klettertouren, Heilpraktiker, Yogalehrer und Autor. Er hat über seine geisteswissenschaftlichen Forschungen Dutzende von Büchern und Broschüren veröffentlicht zu Themen wie Pädagogik, Medizin, Ernährung, Natur und Alpinismus, Architektur und weiteren Themengebieten.
5) Heinz Grill: Der Archai und der Weg in die Berge – Eine spirituell praktische Anleitung in der Ergründung der Wesensnatur des Berges, Lammers-Koll-Verlag 1999, S. 30 ff.
6) Heinz Grill: Das Wesensgeheimnis der psychischen Erkrankungen Synthesia–Verlag 2010, S. 222
7) Carl Friedrich von Weizsäcker, Gopi Krishna: Yoga und die Evolution des Bewusstseins, Crotona Verlag 2010, S. 17